Ja was hat er denn?

Ja was hat er denn?

melvina-mak-672952-unsplash.jpg

Neulich hatten wir im Garten Besuch von zwei Nachbarskindern. Beides Jungs, einer 6 Jahre alt und der andere 8. Beide kennen C. schon seit er zu uns kam, doch erst seit ca. einem Jahr merken sie, dass C. irgendwie anders ist als Jungs seines Alters.

Beim Buddeln im Sand bauten wir einen Vulkan, der mit Hilfe von Essig und Backpulver tatsächlich „ausbrach“. Der ältere Nachbarsjunge, nenne ich ihn mal Lukas, fand die Idee super und spielte begeistert mit. C. schnappte sich einen Spielzeug-LKW, mit dem er den Vulkan hochfuhr, Sand vor sich herschob und der Lava auswich. Da fragte mich Lukas: „Meinst du, C. möchte vielleicht mal lieber den Bagger haben?“

Ich war baff. Jetzt redete schon ein Achtjähriger über meinen Sohn, als wäre der gar nicht anwesend. „Frag ihn doch einfach, er sitzt schließlich direkt neben dir“, antwortete ich ihm. Lukas sah mich einen Moment lang verdutzt an, bevor er sichtlich errötend meinen Sohn direkt ansprach.

Später hüpfte C. mit dem 6jährigen Jungen, nenne ich ihn mal Finn, auf dem Trampolin. Lukas und ich saßen auf der Terrasse, also außer Hörweite. Lukas nutzte die Gelegenheit, mich zu fragen, warum C. denn so „anders“ ist, denn er sei immerhin sieben Jahre alt. Also erzählte ich ihm, dass C. erst mit 16 Monaten zu uns kam, weil wir ihn adoptiert haben. „Also bist du gar nicht seine Mama?“, fragte Lukas. „Doch, er war nur nicht in meinem Bauch. Die Frau, die ihn geboren hat, konnte ihn leider nicht so lieb haben, wie C. es gebraucht hätte. Sie hat eine neue Mama für C. gesucht, damit er es gut hat. Jetzt bin ich seine richtige Mama. Stell dir mal vor, als Baby hätte deine Mama dich nicht gut versorgen können, und du hättest immer bei anderen Menschen sein müssen. Keiner hätte richtig mit dir gespielt und dir etwas beigebracht. So war das leider bei C., deshalb muss er nun noch vieles nachholen.“

Lukas konnte das natürlich nicht alles sofort verstehen, denn als Achtjähriger weiß man natürlich noch nicht, was emotionale Bindung ist oder wie wichtig eine Mutter-Kind-Beziehung in den ersten Monaten ist. Aber immerhin hat er mich gefragt, anstatt C. zu ärgern oder sogar mit anderen zusammen zu mobben.

 

 

Ausgegrenzt

Ausgegrenzt

steve-shreve-259828.jpg

In unserer unmittelbaren Nachbarschaft wohnen vier Jungs; zwei davon sind nur wenig älter als C., einer ist ein knappes Jahr jünger und der Kleinste wurde kürzlich drei Jahre alt. C. ist also vom Alter her genau mitten drin, hätte demnach wunderbar die Chance, mit gleichaltrigen Jungs zu spielen.

Doch er ist „anders“.

In die Schule fährt er mit einem Bus, der ihn morgens abholt und mittags wieder bringt. Denn er geht schließlich nicht auf eine „normale“ Schule. Morgens sehen wir oft andere Kinder, wie sie sich zu Fuß auf den Schulweg machen. Ein persönlicher Fahrdienst ist da selbstverständlich bequemer. C. wird dafür einerseits beneidet, andererseits ist es halt ein Stigma, auf die Sonderschule zu gehen.

Wenn die Kinder draußen miteinander spielen, geht das solange gut, bis es zu Meinungsverschiedenheiten kommt. Da zieht C. meistens den Kürzeren, denn bei Aufregung fängt er stark an zu stottern und vermeidet jeglichen Blickkontakt. Steigt Frust in ihm hoch, beginnt er sich selbst gegen den Kopf zu schlagen. Das ist gefundenes Fressen für die anderen Jungs, die prompt gemeinsam auf C. losgehen. „Bei dir sind ein paar Kabel durchgebrannt!“ war noch das Harmloseste, was er sich heute mal wieder anhören musste. Sein Papa musste einschreiten und unseren bitterlich weinenden Sohn aus dieser Mobbing-Situation befreien. C. schluchzte, er würde nie wieder mit den anderen Jungs spielen.

Dabei würde er so gerne einfach nur dazu gehören.

In der Schule, wo er doch mit anderen Kindern zusammen lernt, die ähnliche Schwierigkeiten haben wie er, bekamen wir zu hören: „C. packt den Nachmittagsunterricht noch nicht. Wir werden ihn nur noch bis mittags beschulen.“

Dass er dadurch wieder einmal ausgegrenzt wird, sahen die Lehrerinnen anders. Wir hatten als Eltern kein Recht auf Einspruch; ob und wie ich die geänderte Tagesplanung umsetzen könnte, blieb allein meine Angelegenheit.

„Klassenverband“? Dass ich nicht lache… Ausgerechnet die Fächer, die C. gut tun würden, fallen nach dieser neuen Regelung für ihn weg. Kreatives Gestalten und Sachkunde, zum Beispiel. Stattdessen sollte ich mit C. schauen, ob es in unsere Nähe vielleicht Kurse zur „Entspannung für Kinder“ gibt. Nein, gibt es nicht. Andere Beschäftigungen am Nachmittag, wie beispielsweise Fußball oder Turnen – klar, die gibt es. Doch einen Sechsjährigen, der ein Regelverständnis hat wie ein Zweijähriger, dafür die Energie und die Zappeligkeit einer Horde Flöhe, den bringe ich in keinem Verein so leicht unter. Lieber sollte er sich mit den Nachbarskindern austoben können.

Ja, in unserer unmittelbaren Nachbarschaft wohnen vier Jungs.

Aber C. bleibt meistens allein.

Mondkäse und Baby-Windräder

Mondkäse und Baby-Windräder

ghost-presenter-425365.jpg
Auch Nilpferde müssten brav die Parkuhr füttern, wenn sie Auto fahren könnten. Mein Söhnchen sah dieses Bild und wollte gleich wissen, was da passiert ist; grundsätzlich hinterfragt er alles, was er noch nicht versteht. Wie sieht Känguruh-Kacke aus? [Ja, ich weiß, das Viech schreibt man zwischenzeitlich ohne „h“, aber da bin ich altmodisch…] . Können Stinktiere schwimmen? Wie schnell schlagen Kolibris mit den Flügeln?

Bin ich froh, dass ich jederzeit Tante Google fragen kann…
Link zum Kacka-Bild. Stinktiere können schwimmen, sind aber nicht scharf drauf – wie Katzen. Und Kolibris schlagen 40-50mal pro Sekunde mit den Flügeln (maximal 90mal)

Schon als kleiner Wicht hat er sich die Welt selbst erklärt. Von unserem Wohnzimmerfenster aus kann man abends schön den Sonnenuntergang sehen, die Sonne verschwindet hinter einem bewaldeten Hügel. C. erklärte uns: „Die Sonne geht in ihr dickes Bett.“
Eines Abends fuhren wir in der Abenddämmerung auf der Autobahn, in der Ferne sahen wir ein paar Windräder. Durch die Entfernung wirkten sie unterschiedlich groß, kein Problem für C.: „Guck mal, das ist Papa-Windrad, da ist Mama-Windrad, und das da ist Baby-Windrad!“ 😍

Seine Phantasie kennt keine Grenzen. Was könnte er nur für grandiose Dinge aus Legos bauen! Leider kann er damit (noch) nicht souverän umgehen, es hapert an Geduld und Feingefühl. Wie bereits berichtet, ist kein Spielzeug vor ihm sicher, immerhin zerbeißt er keine Bücher mehr. In den Mund nimmt er kleinere Teile nach wie vor, weshalb ich eine große Dose mit Playmobil- und Lego-Kleinteilen gut verstaut aufbewahre.

Beim Essen soll man ja eigentlich nicht spielen. Als unser damals vierjähriger Knirps allerdings die tollsten Formen aus seinem Scheibenkäse rausbiss („Hier, ich hab‘ einen Mond! … Jetzt ist der Käse ein Elefant!“), staunten wir lieber und freuten uns über diese durchaus konstruktive, kreative Aktivität.

Das Nilpferd auf dem Bild hatte übrigens mit dem Auto einen Unfall und muss nun in die Werkstatt. Sagt mein Sohn. Wie das denn passieren konnte, wollte ich wissen. „Mama, seine Füße sind doch für die kleinen Pedale zu groß!“

Ach, klar.

Bobbycar statt Standardtest

Bobbycar statt Standardtest

bobby-car-349695_1280

„Ja, was hat er denn?“, werde ich manchmal gefragt. „Eine allgemeine Entwicklungsverzögerung“, hieß es bei der Adoption. Dass diese nicht linear und auch nicht auf allen Ebenen parallel verläuft, haben wir bald gemerkt. Die Sprachentwicklung fing äußerst langsam an, sein erstes Wort brachte er mit 17 Monaten zustande. Dafür hat er mittlerweile einen überdurchschnittlich großen Wortschatz, nicht zuletzt durch unser häufiges Vorlesen und C.’s Interesse an Büchern und Naturdokumentationen. Allerdings lispelt er und verfällt ins Stottern, sobald er aufgeregt ist. Was so ziemlich immer der Fall ist, wenn er unbedingt etwas erzählen möchte.

Motorisch ist es komplex, denn einerseits hat C. eine sehr gute Feinmotorik und kann z.B. eine Handvoll Murmeln einzeln und ohne Zuhilfenahme der anderen Hand auf eine Murmelbahn setzen. Andererseits kriegt er auch nach langer Übung eine normale Stifthaltung noch nicht hin. Und grobmotorisch wirkt er manchmal, als hätte man einen kleinen „Dinner for One“-Butler vor sich.

Würde C. im Laufe der Kindergartenjahre die Entwicklung „aufholen“ und in eine Regelschule gehen können? Anfangs haben wir das gehofft. Doch C. brauchte bald im Kindergarten eine Integrationshilfe, die dreimal pro Woche für mehrere Stunden für ihn da war und soziales Lernen, Konzentration, Motorik usw. unterstützte.

Eines Tages war es soweit, die Eingangsuntersuchung zur Schulfähigkeit stand an. C. war noch nicht einmal fünf, doch diese Untersuchung wird mehr als ein Jahr vor der Einschulung durchgeführt, um mögliche Probleme früh zu erkennen. Da wir mit C. sowieso ständig Termine bei der Interdisziplinären Frühförderstelle und im Sozialpädiatrischen Zentrum hatten, waren uns diese Probleme natürlich bewusst, aber die Untersuchung schien verpflichtend zu sein. Also ging ich mit C. zur vereinbarten Uhrzeit in den Turnraum des Kindergartens, wo die Eingangsuntersuchung stattfand. C. sah die Bobbycars und flitzte innerhalb von einer Nanosekunde auf so einem Gefährt um die verdutzte Frau vom Gesundheitsamt herum. Als ich sie fragte, ob sie C.’s Akte kennt, verneinte sie und ließ sich von mir unsere Vorgeschichte erzählen. „Ja, wenn das so ist, hätten Sie heute gar nicht zur Untersuchung kommen müssen, da hätte mir ein Schreiben vom SPZ gereicht,“ meinte sie freundlich und ehrlich betreten. Es war offensichtlich, dass C. keine einzige der Aufgaben (einfache Bilder nachmalen, Zahlen erkennen, Muster reproduzieren) mitmachen würde und auch nicht könnte. Fröhlich drehte er Runde um Runde auf dem Bobbycar.

Also brachte ich C. zurück in seine Gruppe und meinte grinsend zu seiner Erzieherin, die Dame vom Gesundheitsamt hätte jetzt ein kleines Extrapäuschen zum Durchschnaufen, weil die Untersuchung gar nicht stattfinden konnte.

Ja, was hat unser Sohn? Er hat (noch) die Freiheit, nicht jeden Standardtest absolvieren zu müssen.